Den Funken weitergeben
Carla Hammond (Bildmitte) in "Alice im Feenland 2011 | Foto: Matthias Luhn
Vielmehr als zwei Jahre hatte ich leider nicht das Vergnügen, von Frau Thormaelen unterrichtet zu werden. Zwei Aufführungen habe ich miterlebt. Als am Tag nach meiner zweiten Aufführung die Nachricht kam, dass sie, während wir auf der Bühne standen, verstorben war, konnte das mein sechsjähriger Kopf gar nicht richtig begreifen.
Dafür, dass ich noch so klein war, habe ich doch viele Erinnerungen an sie. Sie muss wohl eine eindrucksvolle Persönlichkeit gewesen sein und ich merke immer mehr, dass sie mich in der kurzen Zeit doch ziemlich geprägt hat.
Frau Thormaelen. Wenn ich an sie denke, sehe ich eine große, schlanke Frau. Wenn wir sie gefragt haben, wie alt sie ist, hat sie immer gesagt, sie wäre hundert. Wir haben es ihr nicht geglaubt, aber so ganz sicher waren wir uns nie.
Ich denke auch an ihre vielen Talente. Tänzerin, Choreografin und Schneiderin in einer Person. Jedes Kostüm hat sie selbst genäht und schon damals habe ich mich gefragt, wie sie das alles hinbekommen hat. (Sie wusste eben genau, was sie wollte und wie sie es wollte.) Sogar der Kuschelhase wurde für Alice im Feenland kostümiert. Die Stoffe lagen dann im Studio auf einem kleinen Tischchen, der jetzt immer noch dort steht. Die einzigartigen Kostüme, die daraus entstanden sind, hängen immer noch in meinem Schrank.
Bei den Proben im Studio für Vorführungen war der ganze Raum gefüllt. Alle Schüler am Rand verteilt und in der Mitte wurden die Choreografien geübt. Eine Gruppe hat sich in der Ecke hinten links versammelt. Ziemlich genau dort, wo noch kurz vorher der Tisch mit den Stoffen lag. Damals haben wir "die Großen" bei ihren Tänzen bestaunt und jetzt blicke ich zurück und bin eine von "den Großen". Es fühlt sich nicht so an, als ob das alles schon so viele Jahre zurück liegt. Und erst recht nicht, als ob es nur zwei Jahre meines Lebens waren. Dafür sind die Erinnerungen viel zu klar.
Eine davon ist eine Probe mit meiner Gruppe: Wir haben einen Tanz mit Leitern geübt. Frau Thormaelen hat uns erklärt, wie sie es haben wollte. Ein Mädchen fragte immer wieder: „Was?“ Die einzige Antwort, die sie bekam, war: „Es heißt nicht "Was?". Es heißt "Wie bitte?".“ Ich weiß gar nicht, wie oft ich an diesen Satz denken muss. Mindestens jedes Mal, wenn jemand „Was?“ fragt. Frau Thormaehlen antwortet in meinem Kopf immer direkt darauf mit ihrem Lieblingssatz.
Eine andere Erinnerung, sind die Stunden vor den Aufführungen. Wir sollten feuerroten Lippenstift und Rouge tragen. Ach ja, nicht zu vergessen: der schwarze Kajal. Meine Mutter hat mich völlig überfordert an eine andere Mutter abgegeben, die gerade dabei war, ihr Kind zu schminken. Die Eltern fanden, dass die ganze Schminkerei für unser Alter übertrieben war. Bernhild Thormaelen wollte eben Tanztheater, da muss auch in der hintersten Reihe der Gesichtsausdruck zu sehen sein. Die Aufführungen waren ein echtes Erlebnis. Für einen Moment in eine andere Welt abtauchen und mit allen Tänzern des Balletttheaters ein einzigartiges Stück präsentieren war selbst für uns Kleine etwas Besonderes.
Meine Mama sagt immer, dass man von all dem noch immer etwas spürt.
Ich hoffe, dass wir es schaffen, die Erinnerung an sie aufrecht zu erhalten und Frau Thormaelen von oben ihren Funken beobachten kann, wie er immer noch weiter glüht und weitergegeben wird.
Mit dem was Sie gerade gelesen haben, fragen Sie sich wahrscheinlich: „Was?! Wie kann man noch so viel wissen, wenn man doch erst so klein war. Das ist bestimmt nicht wahr.“
Ich kann Ihnen mit einem Augenzwinkern eins sagen: Es heißt nicht "Was?". Es heißt "Wie bitte?"